Ein Exodus, der Hoffnung macht

Der Exodus Israels gehört zu den bekanntesten Überlieferungen eines Auszugs in die Freiheit. Heutige Flüchtlinge, eine Pfarrerin und Theaterprofis verleihen der biblischen Geschichte in einem Bühnenstück neue Aktualität.

Im Projekt «Exodus – Menschen in Bewegung» übertragen Studierende der Zürcher Kunsthochschule ZHdK zusammen mit geflüchteten Menschen Teile der biblischen Exodus-Geschichte in die heutige Zeit. Die musikalisch-poetische Inszenierung in der Grossen Kirche Fluntern beinhaltet in einer sechsteiligen Reihe persönliche Geschichten von Geflüchteten und Kompositionen, die Mitglieder der ZHdK-Kompositionsklasse geschrieben haben. Im Orchester musizieren Studierende der Kunsthochschule und das Stringendo14 des Musikkonservatoriums Zürich.

Die Idee für das einzigartige Gemeinschaftsprojekt kam Pfarrerin Chatrina Gaudenz im Austausch mit einem Ehepaar aus der Kirchgemeinde und mit Dozent Till Löffler. Die Initiantinnen und Initianten wollten etwas Grösseres machen und dabei geflüchtete Menschen und ein ganzes Orchester einbeziehen.

Im Austausch und in der Begegnung mit der Kompositionsklasse und einigen Freiwilligen, die jeden Mittwochnachmittag in der Grossen Kirche Fluntern rund 70 geflüchtete Menschen in Deutsch unterrichten, wuchs die Ausgangsidee weiter. Wie sich alles zusammenfügt, fragten wir die Pfarrerin und Initiantin Chatrina Gaudenz.

Warum haben Sie das Projekt «Exodus» initiiert?

Das Thema «Menschen auf der Flucht» ist schmerzlich aktuell. Heute sind sehr viele Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Die biblische Erzählung vom Auszug Israels aus Ägypten gehört zu den bekanntesten Überlieferungen eines Aufbruchs, einer  Flucht. Der gewagte Aufbruch ins Neue ver­­bindet die Beteiligten des Projekts: Geflüchtete Menschen, die einen Exodus hinter sich ha­ben – oder in einem Exodus drinstecken – treffen auf Studierende, die zum ersten Mal für ein grosses Orchester komponieren.

Gemeinsam setzten sich diese jungen Menschen mit der biblischen Erzählung des «Exodus» auseinander. Sie alle teilen die Erwartung, dass der Wechsel zwischen den unterschied­lichen Erfahrungswelten und Perspektiven auf das gemeinsame Thema unerwartete Klang- und Wortwelten eröffnet und zum Gewinn und gegenseitigen Verständnis aller Beteiligten führt.

Was will uns die Exodus-Geschichte der Bibel eigentlich mitteilen?

Die biblische Geschichte des Exodus ist keine Darstellung realer Ereignisse. Sie ist aber auch keine vollständige Fiktion. Die Autoren wollen mit der Beschreibung der Geschehnisse ihre eigene Gegenwart erklären. Der Auszug aus Ägypten bedeutet die Lossagung des Volkes Israel von allen irdischen Mächten und die Zuwendung an den einen und einzigen Gott. Die Hörerinnen und Leser sollen erkennen, dass Gott mit seinem Volk ist. Unterdrückung kann dem Volk nichts anhaben. Gott selbst sorgt im Hintergrund dafür, dass das Volk schliesslich die Freiheit erlangt.

Warum ist diese Geschichte bis heute so wirkmächtig?

Diese Erzählung ist politisch! Sie zeichnet einen Horizont, der über die irdischen Mächte hinausgeht. Er birgt Hoffnung. Hoffnung für Menschen auf der Flucht, Menschen in Bewegung. Gleichzeitig stellt die biblische Geschichte des Exodus eine der elementarsten Wurzeln religiösen Eifers dar. In der späteren Geschichte von Judentum, Christentum und Islam waren Anhänger dieser drei Weltreligionen immer wieder bereit, in bedingungsloser Abhängigkeit von ihrem Gott, Taten zu vollbringen, ohne sie kritisch zu hinterfragen.

Welches Gottesverständnis wird erkennbar und wie fliesst es in die Produktion ein?

Der hebräische Bibeltext, den wir in Auszügen in einer deutschen Übersetzung hören, konzentriert sich ganz auf die Zusage des Mit-Seins Gottes. Wir hören, was Gott Moses und dem Volk Israel auf der Flucht getan hat. Diesem Gottesverständnis stellen wir Erzählungen und Erfahrungen von einer geflüchteten Frau aus Nordafrika, einer jungen Frau aus der Ukrai­ne und einem Mann aus Eritrea an die Seite. Junge Studierende mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen reagieren mit ihren Kompositionen für Orchester auf die Erzählung.

Zur Osternachtliturgie gehört in manchen Kirchgemeinden der Exodus als Urbild der Auferstehung. In den Pessachfeiern ist der Exodus sogar zentral. Verknüpft die Produktion Exodus-Erfahrung und Auferstehung? 

In der jüdischen Feiertagstradition spielt Pessach eine herausragende Rolle. Dabei werden jeweils die Texte und Kommentare zum Exodus aus Ägypten gelesen und der Tradition gemäss im Lauf der Lektüre frei von der Festrunde diskutiert. Auch wir konfrontieren in der Osterzeit die Zuhörerinnen und Besucher mit relevanten Fragen und Kommentaren zum jüdisch-christlichen Gedankengut zur biblischen Geschichte des Exodus. Dabei versuchen wir, ein sensibles Bewusstsein für die eigene religiöse und kulturelle Identität zu wecken.

Eine Verbindung zwischen Exodus und der biblischen Auferstehungserzählung Jesu wird im Voraus nicht hergestellt. Ich schliesse nicht aus, dass sie implizit entsteht. Bei Marga Bührig las ich kürzlich sinngemäss: «Die wichtigste Erfahrung bleibt, dass ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie aus dem Kreuzweg des Leidens Auferstehung, oder anders gesagt: Widerstand wächst.»

War es schwierig, Mitwirkende mit realen Exodus-Erfahrungen zu finden?

Ich habe das Projekt im Kurs «Deutsch für Flüchtlinge» vorgestellt. Daraufhin haben sich zwei Frauen gemeldet. Leider passten ihre Lieder nicht zum Konzept. So suchten wir weiter. Aber: Die Realität der geflüchteten Menschen ist, dass sie zum Teil gar nicht wissen, ob sie am Tag der Aufführung noch in der Schweiz sind. Andere Sorgen plagen sie als unsere kleine Reihe. Schliesslich haben wir eine Frau aus Nordafrika gefunden, die ein arabisches Gedicht über die Flucht vorträgt, und eine junge Frau aus der Ukraine, die von der Freiheit erzählt.

Über Umwege bin ich auf Zekarias Kebraeb gestossen. Er ist im 2002 aus Eritrea geflüchtet. In seinem Buch «Hoffnung im Herzen, Freiheit im Sinn» schildert Kebraeb, wie er aus seiner Heimatstadt aufbricht. Er beschreibt die Tage in der Wüste, die Fahrt über das Mittelmeer, die Zeit in Asylzentren auch in der Nähe von Zürich und schliesslich seine Ankunft in Nürnberg. Kebraeb wird einige Passagen aus seinem Buch vorlesen.

Wie gestaltet sich die Kooperation aller Beteiligten?

Grundsätzlich ist der Prozess gut angelaufen. Aber klar, wir haben viele Beteiligte und es geschieht hier und dort Unvorhergesehenes. Es gibt Stolpersteine, die wir überwinden müssen. Jemand verliert den Mut, ein anderer verliebt sich und interessiert sich nicht mehr für das Projekt, eine Dritte wird ausgeschafft.

Ich bin sehr froh, dieses Projekt zusammen mit Till Löffler und Kurt Reinhard, dem beteiligten Filmemacher, zu stemmen.

Welche Elemente werden die thematischen Abende beinhalten? 

Wir vertiefen an sechs Abenden je einen Aspekt der Exodus-Erzählung, etwa zum Mann Mose, zu den Plagen oder zur Wüste. An jedem Abend wirken unterschiedliche Formationen von Studierenden musikalisch mit. Ich wähle biblische Passagen aus, verknüpfe sie mit Sekundärliteratur, gestalte die Übergänge und suche passende Gedichte von der Antike bis in die Gegenwart.

Interview: Madeleine Stäubli-Roduner

Nächster Themenabend von «Exodus» in der Reihe «Musik und Poesie»: Der Mann Moses, 23. März, 18 Uhr, Grosse Kirche Fluntern. Weitere Daten: 27. April, 28. September, 26. Oktober, 30. November. 
 

Chatrina Gaudenz ist Pfarrerin in Zürich und Mitinitiantin des Orchester- und Bühnenprojekts «Exodus»

Exodus auf SRF

Das Exodus-Projekt wird filmisch dokumentiert. Filmemacher Kurt Reinhard und sein Team waren von Anfang an dabei und fingen das Zusammenwirken der unterschiedlichen Menschen ein.

Sie zeigen, wie sich die Geflüchtete und Künstler einbringen und gegenseitig inspirieren, aber auch wie sie Konflikte austragen. Der Film entsteht in Koproduktion mit der «Sternstunde Musik» von SRF und wird im Herbst ausgestrahlt.