«Kirche soll Freude machen»
Nach mehr als zwölf Jahren tritt Michel Müller als Kirchenratspräsident zurück. Ein Gespräch über dringende Reformen, aggressive Nörgler und die Kunst, die Freude an der Kirche zu erhalten.
Michel Müller, Sie geben in den nächsten Wochen Ihr Amt als Kirchenratspräsident ab. Was werden Sie am meisten vermissen?
Den Austausch und die Zusammenarbeit mit qualifizierten Mitarbeitenden, aber auch die gute Diskussionskultur mit den Kolleginnen und Kollegen im Kirchenrat. Das war sehr bereichernd. Vermissen werde ich wohl auch die Möglichkeit, die Kirche – auch national – mitzuprägen. Und dann durfte ich ein paar wunderbare Gottesdienste feiern, die mir in Erinnerung bleiben.
Und was ganz sicher nicht?
Die Anpflaumereien per Mail oder per Brief von allerlei Unzufriedenen, teilweise auch Pfarrpersonen, die meinen, beim Kirchenratspräsidenten oder auch bei Mitarbeitenden ihren Frust abladen zu müssen.
Wie hält man das aus?
Am besten im Austausch mit anderen, mit dem Kirchenratskollegium und mit anderen Menschen, die Verantwortung tragen. Die kennen das auch. Und wichtig ist, Menschen im Privatleben zu haben, die einen tragen: Freunde und Familie. Auch Hobbys in einer ganz anderen Welt können helfen, das kann ein Fussballspiel oder eine Wanderung sein.
Abgesehen von Frusterlebnissen – wie fühlte es sich an, als Repräsentant der Reformierten in der Öffentlichkeit zu stehen?
Ich habe es genossen, die Möglichkeit zu haben, Projekte anzustossen, den Menschen Impulse mitzugeben – sei es in der Kirchensynode, im Kantonsrat, aber auch bei persönlicheren Anlässen wie Verabschiedungen von Pfarrpersonen oder Ordinationsfeiern, bei denen ich neue Pfarrerinnen und Pfarrer in den Dienst der Kirche aufnehmen durfte.
Wie wurden Sie in Politik und Kultur in Zürich auf- und wahrgenommen?
Im Kanton Zürich ist die Reformierte Kirche noch stark eingebunden ins politische und gesellschaftliche Leben. Da gehörte ich – auch mit Baselbieter Herkunft – von Anfang an dazu. Etwas schwach war der Kontakt zur Wirtschaft. Das hat damit zu tun, dass die Wirtschaft auf dem Platz Zürich viel internationaler geworden ist. Die CEOs und Verwaltungsräte der grossen Unternehmen wohnen nicht mehr in Zürich oder betrachten Religion als Privatsache. Als lokale Kirche ist es schwierig, Kontakt herzustellen.
In Ihrer Ära feierten die Zürcher Reformierten ihr 500-Jahr-Jubiläum. Wie gut ist es gelungen, dies der Öffentlichkeit zu zeigen?
Wir wollten von Anfang an ein grosses Jubiläum machen. Auch mit entsprechendem Budget. Es gelang uns, dafür insgesamt 20 Millionen Franken zusammenzubringen. Das gab uns Gestaltungsmöglichkeiten – auch in Zusammenarbeit mit Stadt, Kanton, Tourismus und kulturellen Institutionen. Weniger gut gelang der Einbezug der Kirchgemeinden. Eine grosse Breitenwirkung entwickelte dafür der Zwingli-Film, den wir als Kirche angestossen und mitfinanziert haben.
Also nichts mit reformierter Bescheidenheit?
Nein. Aber wir gaben dafür auch bewusst die Deutungshoheit ab. 500 Jahre Reformation war nicht nur unser kirchliches Jubiläum, sondern das der ganzen Gesellschaft. Dadurch war eine enorme Vielfalt möglich. Auch Schattenseiten der Reformation wurden the-matisiert, etwa die Verfolgung von Täufern und sogenannten Hexen. Das Jubiläum zeigte auch, was die Umwälzung für die Menschen damals im Alltag bedeutete: nicht nur Befreiung, sondern auch neue Abhängigkeiten. Es gelang, diese Ambivalenz zu zeigen und die aktuelle Relevanz.
Mit dem Reformprozess KirchGemeindePlus haben Sie in Ihrer Zeit versucht, Landeskirche und Kirchgemeinden fit für die Zukunft zu machen. Sind Sie zufrieden mit dem Erreichten?
Das Reformationsjubiläum half mit, das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass wir eine Kirche sind, die sich mit Reformen immer wieder den Erfordernissen der Zeit anpasst, inhaltlich und strukturell. Schwierig war, dass die parlamentarische Basis für den Reformprozess anfänglich schwach war. Die Kirchensynode, viele Kirchgemeinden und letztlich auch die Mitglieder bei Urnenabstimmungen stützten aber die Stossrichtung und nutzten Zeit und Mittel für die nötigen Veränderungen. Mich beschäftigt aber, dass es immer noch Gemeinden, Berufsgruppen und Personen gibt, die zurück zur alten Logik möchten – und das wird all jenen nicht gerecht, die die Zeit für Veränderungen genutzt und die Reformen vorangetrieben haben. Wenn man sich erst verändert, wenn man muss, wird es ungleich schwieriger.
Zu Veränderung zwingt der ungebremste Mitgliederverlust. Was raten Sie Ihrer Nachfolgerin, aber auch den Mitarbeitenden und Behörden, damit man sich dadurch nicht entmutigen lässt?
Man muss ehrlicherweise sagen: Während der Zeit des Jubiläums und von KirchGemeindePlus hat sich der Mitgliederverlust sogar noch akzentuiert. Man könnte daraus folgern, möglichst nichts zu machen, sich stillzuhalten. Ich halte das aber für den falschen Weg. Wir müssen uns bewegen, solange wir Mittel haben. Aber es frustriert schon, wenn wir trotz positiver Veränderungen – ich denke an Frauenordination und Ehe für alle – ähnlich grosse Mitgliederverluste haben wie unsere Schwesterkirche.
Was tun?
Man darf es nicht auf das persönliche Handeln beziehen. Aber auch schönreden und nur auf gesellschaftliche Trends zurückführen geht nicht. Wir müssen uns eingestehen, dass manche Menschen persönlich nicht mehr überzeugt sind, sich distanzieren wollen, vielleicht auch wegen ungenügender Erfahrungen mit der Kirche. Wichtig bleibt, dass wir alle versuchen, unseren Job so gut wie möglich zu machen.
Die letzten Jahre waren von Krisen geprägt: Corona, Krieg in Europa, Flüchtlingselend und die wachsende Sorge um die Umwelt. Wie erlebten Sie die Zeit als Krisenmanager?
Auch das ging nicht alleine. Wir haben die Aufgaben von Anfang an im Kirchenrat auf verschiedene Schultern verteilt. Auch die Zusammenarbeit und der Austausch mit Behörden auf kantonaler und nationaler Ebene waren wichtig. Und dann muss man überlegen: Was kann ich tun?
Was bedeutet das in der Flüchtlingsfrage?
Als die ersten Bundesasylzentren entstanden, konnte ich am Interreligiösen Runden Tisch anregen, dass es auch muslimische Seelsorge braucht. Das wurde dann auch realisiert. Oder: Beim Angriff auf die Ukraine war es mir möglich, via EKS und Ökumenischen Rat der Kirchen Druck auf den russisch-orthodoxen Patriarchen aufzubauen. Immer geht es darum, dort Einfluss zu nehmen, wo man kann. Dazu sind alle berufen. Und das nehmen in der Kirche so viele Menschen wahr und tragen persönlich etwas dazu bei, die Flüchtlingskrise zu mildern, mit Deutschunterricht, mit Kochen zusammen mit Geflüchteten, mit Kinderbetreuung.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für die Kirche der Zukunft?
Wichtig ist mir dies: In der Kirche mitarbeiten, soll Freude und Sinn machen. Es muss möglich sein, etwas zu bewegen. Wir haben Mittel und Menschen, die etwas tun wollen und Handlungsfreiräume brauchen, zum Beispiel gegen das Flüchtlingselend, gegen die Zerstörung der Umwelt, aber auch für Innovation in der Kirche selber. Ein zweites: Wir müssen über das Thema Mitgliedschaft nachdenken: Wie können wir noch auf andere Weise Menschen in Kontakt und Verbundenheit mit der Kirche bringen? Und dabei gleichzeitig den zahlenden Kirchenmitgliedern Sorge tragen.
Sie gestalten die Kirche künftig wieder an der Basis im Pfarramt mit. Welch ein Pfarrer werden Sie in Weggis sein?
Die Rückkehr ins Pfarramt ist für mich interessant, weil ich als Präsident des Konkordats auch die Pfarrausbildung in der Deutschschweiz weiterentwickelte. Wir gaben dort den neuen Pfarrpersonen die Haltung mit, «das Evangelium zu riskieren». Das bedeutet, das Evangelium zusammen mit den Leuten zu entdecken, zuzuhören und Kirche gemeinsam zu bauen. Das nehme ich mir selber vor. Ich komme in eine Gegend, die ich nicht kenne, wo die Reformierten eine kleine Minderheit sind, und lasse mich auf dieses Abenteuer ein.
Interview: Christian Schenk
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Wer tritt die Nachfolge im Präsidium an?
Am 21. November wählt die neu konstituierte Kirchensynode die Nachfolge für Michel Müller als Kirchenratspräsident. Nach dessen Rücktritt und nach dem frühzeitigen Verzicht der für die Liberale Fraktion kandidierenden Sabrina Müller verbleibt nur noch Esther Straub als offizielle Kandidatin im Rennen. Pfarrerin Esther Straub ist amtierende Kirchenrätin und Kandidatin der Religiös-sozialen Fraktion (RSF). Sie bewirbt sich ausschliesslich um das Präsidium.
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Der Kirchenrat besteht aus sieben Mitgliedern und bildet die Exekutive der Zürcher Landeskirche.