Im Dunkel unserer Nacht – Spiritualität erleben

Kleine Auszeiten im Alltag oder Andachten wie «Die Nacht der Lichter» entsprechen einem Bedürfnis spirituell suchender Menschen. Was hat die Reformierte Kirche in diesem Bereich zu bieten?
 

Es ist kurz vor sieben in Zürich. Die Nacht ist an diesem Novembersamstag schon vor Stunden über die Stadt hereingebrochen, die geschäftige Hektik ist hingegen längst nicht verflogen: In den Strassen herrscht noch das übliche Grossstadtgewusel. Alle scheinen es eilig zu haben, vielleicht wegen einer To-Do-Liste, die gegen Jahresende noch dichter wird als sonst, oder weil der giftige Wind in den Gassen die Menschen vorwärtstreibt. 

Wer nun – geplant oder per Zufall – durch das Portal des Grossmünsters schlüpft, landet in einer anderen Welt: Der Trubel der Stadt verstummt und die garstige Kühle bleibt im Windfang hängen. Man taucht ein in einen Raum, der mit hunderten Kerzen feierlich beleuchtet ist. Helfer reichen allen Ankömmlingen ein Licht und sorgen dafür, dass hier jede und jeder Teil dieser feierlichen Atmosphäre wird. Viele reihen sich nebeneinander auf den Kirchenbänken ein oder machen es sich mit einem Sitzkissen irgendwo auf dem uralten Steinboden bequem. Beides ist ausdrücklich erwünscht.

Die Feier, die hier bald mit Liedern und kurzen Wortbeiträgen nach der schlichten Liturgie der Tradition von Taizé (siehe Kasten) beginnt, ist bewusst so gestaltet, dass sich auch Menschen heimisch fühlen, die mit der kirchlichen Sitzordnung und anderen Gepflogenheiten kaum vertraut sind. Für diese ökumenisch organisierte «Nacht der Lichter» im November lassen sich wohl auch deshalb spirituell Suchende unterschiedlichster Prägung begeistern – im Grossmünster seit mittlerweile mehr als 20 Jahren. 

Für Grosis und Hipster 

Über 800 Menschen seien es letztes Jahr gewesen, erzählt Eveline Husmann, Organisationsmitglied im ökumenischen Team und seit Jahren Mitfeiernde. Von der 10-Jährigen bis zur Generation Ü-80, vom Hipster bis zum Kirchenprofi, von Taizé-Fan-Gruppen bis zu Spontanfeiernden und Touristen aus aller Welt – so bunt sei jeweils die zusammengewürfelte Gemeinde, die sich im November für eine Stunde zusammenfindet. Dann schweigt und singt man zusammen, hört den kurzen, in verschiedenen Sprachen vorgetragenen Wortbeiträgen und Friedensgebeten zu.

«Diese stille und feierliche Gemeinschaft berührt mich jedes Jahr wieder», sagt Eveline Husmann. Das sonst eher kühl wirkende Kirchenschiff verwandle sich in einen Raum, in dem man sich geborgen fühle – egal welche religiöse Prägung oder spirituelle Ausrichtung man mitbringe. Berührend für sie sei auch, wenn der nur wenige Stunden zuvor zusammengestellte Adhoc-Chor zusammen mit den Musikern und dem Kantor die eingängigen Lieder vorträgt und die Menschen beim Mitsingen sanft getragen werden: «Dans nos obscurités, allume le feu qui ne s`éteint jamais» singen dann Hunderte zusammen und tragen später diese Liedzeile und vielleicht auch ein frisch entfachtes inneres Feuer ins «Dunkel der Nacht» hinaus. 
 

Licht, Stille und Gesang: Gegen 1000 Personen feierten auch dieses Jahr im Grossmünster die Nacht der Lichter. Foto: Reto Schlatter

Reformierte entdecken Spiritualität

Solche innere Stärkung in einer schlichten Andacht zu erfahren, gerade in Zeiten, in denen die Weltlage zum Verzweifeln scheint oder persönliche Belastungen schwer wiegen, entsprechen einem Bedürfnis der Menschen. Mögen sich immer weniger in einer Religion zu Hause fühlen und der Kirche den Rücken kehren, so zeigen solch gut besuchte Angebote, dass Formen des spirituellen Suchens und gemeinsamen Innehaltens gefragt sind. 

Diesen «geistlichen» Weg der Glaubenspraxis eröffnen die Kirchen eigentlich seit jeher und lange bevor Achtsamkeit und Meditation zum Trend wurden. Die reformierte Kirche will hier anknüpfen und den Menschen zeigen, welch lebendige Traditionen sie pflegt und wie offen die Formen der Spiritualität sind, die in den Kirchgemeinden gelebt werden. Diesbezügliche Bestrebungen entsprechen einem Legislaturziel des Kirchenrates und sind seit zwei Jahren intensiv im Gang: Unter dem Projektnamen «RefDate» hat die Abteilung Lebenswelten der Landeskirche über hundert spirituelle Angebote und Veranstaltungen zusammengetragen. 

Ordnet man sie nach Kategorien, sind es vor allem Meditations- und Gebetsformen (wie zum Beispiel Taizé-Feiern, Andachten und Formen der Kontemplation), die in den Kirchgemeinden gepflegt werden. Musikalische Gefässe oder solche, in denen Gespräche wichtig sind, kommen ebenfalls häufig vor. Kirchgemeinden bieten auch Self Care, Auszeiten oder spirituelle Formen in der Natur an. 

Eher neu ist, dass vermehrt Körperübungen (Tanz, Yoga, Pilgern) eine Rolle spielen, etwas, das in der reformierten Tradition eher spärlich gepflegt wurde. Interessierte finden jetzt auf der Website www.refdate.ch das breite Spektrum dieser spirituellen Praxis. Gleichzeitig findet innerkirchlich ein eine Reflexion über das Thema statt: zum Beispiel an der Kappeler Kirchenpflegetagung

Beten im Weinkeller

Zurück zu einem Beispiel gelebter Spiritualität mitten im Alltag: Die Frage «Pardon, wo geht es hier zum Tagzeitgebet?» an der Theke eines belebten Restaurants in der Altstadt von Winterthur löst Erstaunen bei den jugendlichen Gästen aus. Beten? Die Frage führt aber bald zu einem verständnisvollen Nicken und einem Griff zum Schlüssel.

Eine Mitarbeiterin begleitet durch den «Hinteren Hecht» in einen Hinterhof und im Nebengebäude via Treppe in einen Kellerraum. Er war einst Tenn eines ehemaligen Rossstalls und birgt noch ein Stück der 700-jährigen Stadtmauer. Im Kreis stehen ein Dutzend Stühle bereit, die Mitte zieren drei gutgediente Gartentischchen mit einem Trockenstrauss und mehreren Kerzen samt Anzünder. Dienstag, 12 Uhr, Tagzeitgebet, mitten in der Stadt. 

An diesem Novembertag im strömenden Regen finden sich weniger Teilnehmende als üblich ein. Doch auch in kleiner Runde stellt sich sogleich das Gefühl einer wohltuenden Ruhe und Besinnlichkeit ein, als die Vorsängerin in die Liturgie einsteigt. Mit klarer Stimme führt sie im Wechsel mit der Gruppe durch die gesungenen Gebete und Psalmen aus Montmirail und durch die Taizélieder.

Zwischendurch Stille, halblaute, schlichte und kurze Gebete rufen im flackernden Kerzenlicht zu Gott. Im Hintergrund sind das Prasseln des Regens und Geräusche der Umgebung zu vernehmen, von weit weg brummt die Stadt in ihrer Betriebsamkeit. Ein vertrauliches Miteinander trägt die kleine Runde durch die Besinnung.  Zwanzig Minuten später werden die Teilnehmenden einige persönliche Worte austauschen und wieder in ihren Alltag zurückkehren, hier stehen herausfordernde Prüfungen an, dort ruft ein gefüllter Terminkalender. 

Auszeit im Alltag. Weinkeller Hinterer Hecht

Geborgenheit und Gemeinschaft: für 20 Minuten über Mittag im «Hinteren Hecht» in Winterthur. Foto: Simon Obrist.

Von feministisch bis freikirchlich 

Das Innehalten in der Mitte des Tages gerade an diesem Ort, sei sehr geschätzt, sagt Simon Obrist. «Die ästhetische Form des geschützten Kellerraums ist Ausdruck dessen, was wir hier gemeinsam leben», sagt der Sozialdiakon und Geschäftsführer im «Hinteren Hecht». Der 2017 gegründete Verein «Friendship in Town» verbindet im «Hinteren Hecht» seit 2019 Gastronomie und Kultur. Die Gastronomie läuft gut: «Wir sind ein beliebter städtischer Treffpunkt», sagt Obrist. 

Auch die kulturellen Anlässe wie Konzerte und Kerzenziehen sind beliebt, die Räume werden regelmässig von unterschiedlichsten Gruppierungen zwischen feministisch und freikirchlich gemietet. Ihre Positionen könnten unterschiedlicher nicht sein, aber Obrist liegt viel daran, keine Polarisierungen aufkommen zu lassen und vielfältigen dynamischen Angeboten einen Platz zu geben.  

Seit zwei Jahren hat nun auch das Tagzeitgebet seinen Platz, es gehört einfach dazu und zieht manchmal auch Gäste an, für die so etwas fremd ist. Jeden Dienstagmittag treffen sich rund acht bis zwölf Personen, sie sind zwischen 20- und 40-jährig und meist kirchennahe, die Liturgie ist anspruchsvoll. «Das Repetitive erlaubt zu verinnerlichen», sagt Obrist. Alle wissen, was sie erwartet, niemand muss etwas vorbereiten und es geht nicht um persönliche Frömmigkeit.

Das Gebet ist in einen Rahmen eingebettet, was dem Ablauf eine bestimmte theologische Prägung verleiht. «Ich will Gott, Gebet und Singen nicht ausschliessen», sagt Obrist. Darum gestaltet er das, was er unter Kirche als Gemeinschaft im Alltag versteht. «Wir sind ein Haus mit vielen Zimmern, wo Verschiedenes stattfindet. Schön, wenn jemand auch ein Zimmer besucht, das er oder sie noch nicht kennt», sagt er. Und: «Jeder Mensch geht seinen eigenen Weg mit Gott, meinen Auftrag sehe ich darin, unterwegs zu sein und den Menschen zu begegnen», sagt Obrist beim Abschied und kehrt im strömenden Regen durch den Hinterhof in die Gaststube zurück.

Text: Christian Schenk und Madeleine Stäubli-Roduner