Seelsorge bietet Raum für Resonanz
Christina Huppenbauer leitet unsere Abteilung Spezialseelsorge. Sie spricht über den seelsorgerischen Umgang mit dem assistierten Suizid. Mit einer Handreichung mit praktischen Empfehlungen will die Reformierte Kirche Orientierung bieten.
Seelsorge und assistierter Suizid: Welches sind Ihre frühen Erfahrungen?
Meine erste Erfahrung liegt lange zurück und ist eine persönliche: Ein lieber Freund war an ALS erkrankt und starb fünf Jahre später durch einen assistierten Suizid. Der Prozess der Entscheidungsfindung durch ihn und seine Familie hat mich lange umgetrieben. Beruflich hatte ich verschiedene Begegnungen, meist im Vorfeld eines assistierten Suizids, wo es um die Klärung verschiedener Fragen ging oder darum, ob ich bereit bin, die Beerdigung zu gestalten.
Sie wirkten Jahrzehnte als Pfarrerin und sind seit Sommer 2021 Leiterin Spezialseelsorge bei der Reformierten Kanton Zürich. Wie geht die Kirche heute mit den Fragen nach der professionellen Begleitung von Sterbewilligen um?
Der Unterstützung suchende Mensch steht im Mittelpunkt und die reformierte Kirche ist offen für dessen Anliegen. Dabei kann es sich um jemanden handeln, der für sich selber einen assistierten Suizid in Betracht zieht oder weil eine angehörige Person das tut oder tun möchte. Es kann darum gehen, dass sich jemand Resonanz zu seiner oder ihrer Situation wünscht oder eine Begleitung darin; es kann um fachliche Informationen oder das Klären von ethischen oder anderen Fragen gehen. Die Reformierte Kirche hat also eine professionelle Haltung, fokussiert auf das Gegenüber und seine Not und steht gegründet im Evangelium.
In welchem Spannungsfeld stehen dabei die seelsorglich tätigen Personen?
Die Seelsorgenden stehen im gleichen Spannungsfeld wie die ganze Gesellschaft und sie sind in ihren unterschiedlichen Haltungen ein Abbild davon. Im letzten Jahr haben Fachpersonen der Reformierten Kirche eine Handreichung verfasst.
Welche Überzeugungen bildeten deren Basis und welche Aspekte und Neuerungen standen im Fokus?
Die Arbeit an der Handreichung begann vor meinem Arbeitsantritt als Abteilungsleiterin. Meines Wissens bestand die Intention darin, mit und für die Mitarbeitenden der Reformierten Kirche eine Hilfestellung zu erarbeiten für diesen hochkomplexen und auch hochemotionalen Themenbereich. In meiner Wahrnehmung waren und sind es sehr unterschiedliche Überzeugungen, die die Mitwirkenden haben und mit denen sie sich im Entstehungsprozess fruchtbar auseinandergesetzt haben. Neu ist diese kollektive Vorgehensweise und dass die Seelsorge suchende Person im Zentrum steht. Es geht weniger um grundsätzliche ethischtheologische Erwägungen.
Was bedeutet dieser Fokus auf die Seelsorge suchende Person für die Seelsorgenden?
Wie es der Name sagt, will die Handreichung dienlich sein, die verschiedenen Fragestellungen im Kontext eines assistierten Suizids handhaben zu können. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den praktischen Abläufen und nicht beim akademischen Diskurs. Sie soll den Umgang mit den konkreten Situationen und den dazugehörenden Fragen erleichtern.
Die Handreichung postuliert, den Fokus auf den leidenden Mitmenschen zu richten und Anwältin, Anwalt der Sterbewilligen zu sein. Dagegen hält etwa Professor Ulrich Körtner fest, Sterbewünsche seien nicht unbedacht als Ausdruck eines autonomen Willens zu sehen, sondern könnten auch Symptom für gesellschaftlichen Druck sein. Berücksichtigt die Handreichung solche Überlegungen?
Ein Anwalt, eine Anwältin ist eine Expertin. Sie berät Personen in bestimmten Fragen, zu denen diese weniger Erfahrung und Hintergrundwissen haben. Er oder sie übernimmt nicht ungefragt die Haltung der Person, die sie kontaktiert, sondern sagt möglicherweise auch einmal «das geht nicht oder so geht das nicht» und rät «haben Sie dies oder jenes bedacht». Die Seelsorge bietet ein Gegenüber, sie ist ein Angebot für Resonanz. Dabei ist wichtig, dass die Seelsorgenden nicht persönlich involviert sind, wie es etwa Angehörige oder Vertretende der Sterbehilfeorganisation sind, die in einem gewissen Sinn immer Partei sind. Vielmehr können Seelsorgende einen unvoreingenommenen Raum bieten. Das ist zentral. Viele Menschen wissen nicht, mit wem sie sich über das Sterben und ihre Ängste oder Anliegen diesbezüglich unterhalten können. Da hat die Seelsorge eine zunehmend wichtiger werdende Aufgabe, Gesprächspartnerin im Erlebens und Entscheidungsprozess zu sein.
Ein Punkt betrifft die Motivation der Sterbewilligen. Die Handreichung besagt, die Frage nach Suizidassistenz könne zwei Richtungen haben. Sie könne Ausdruck der Aushandlung von Autonomie in schweren Leidenssituationen sein oder einen konkreten Plan für das eigene Sterben bedeuten. Könnte es noch eine dritte Erklärung geben, nämlich dass Menschen heute vor dem Lebensende stärker unter Druck geraten, vorzeitig zu gehen?
Dass alle relevanten Themen zur Sprache kommen, insbesondere wenn es auch um heikle, scham- oder schuldbehaftete Aspekte geht, ist in jedem Seelsorgegespräch wichtig. Damit das gelingt, braucht es Vertrauen, achtsames Hinhören, solides «Handwerk» – und manchmal auch das Nachfragen, ob wirklich das Wesentliche zur Sprache kommen konnte. Allenfalls passt es sogar mal zu fragen, ob denn materielle Aspekte auch eine Rolle spielen. Ältere Menschen machen sich dazu oft Gedanken.
Vielen Menschen graut vor dem Sterben an Maschinen, im Bann einer übermächtigen Medizin. Doch ein Ableben in privater Umgebung oder mit Sterbebegleitern bedeutet nicht zwangsläufig mehr Selbstbestimmung. Was heisst «selbstbestimmt» eigentlich?
Eine grosse Frage, insbesondere im Zusammenhang mit dem Sterben. Für mich passt das Wort «selbstbestimmt» nicht wirklich in diesen Kontext. Ist nicht alles mehr ein Versuch, einen Umgang mit dem Unabänderlichen und der Endlichkeit zu finden? Mir scheint darum der Begriff «selbstbestimmt» mehr ein Bemühen, eine bittere Pille etwas erträglicher zu machen.
Sieht die Handreichung den Weg mit Sterbehilfeorganisationen grundsätzlich positiv? Müssten diese nicht auch kritisierbar bleiben, etwa hinsichtlich ihrer finanziellen Interessen?
Der assistierte Suizid ist in der Schweiz unter klar definierten Bedingungen möglich. Damit sollen die Menschen nicht allein gelassen werden. Die Handreichung will sachliches Wissen über das Sterben mit einer Sterbehilfeorganisation geben, damit jede Seelsorgerin, und jeder Seelsorger die nötigen Informationen hat, um für ein Gespräch vorbereitet zu sein. Selbstverständlich müssen Sterbehilfeorganisationen kritisierbar sein und bleiben. Das gelingt gerade dadurch, dass wir im Gespräch sind mit den Menschen, die so einen Schritt in Erwägung ziehen. Ein assistierter Suizid ist ein massiver Eingriff, der nicht beschönigt werden will.
In der Handreichung heisst es allerdings «Die Reformierte Kirche möchte nahe bei den Menschen sein. Deshalb darf sie sich der veränderten gesellschaftlichen Haltung zum assistierten Suizid nicht entziehen und zeigt sich ihr gegenüber offen». Müsste die Kirche nicht vielmehr eine Position einnehmen, die fern vom Machbarkeitsdenken agiert?
Wenn wir in existenziellen Fragen ein Gegenüber sein wollen und eine Gesprächspartnerin, dann müssen wir sprachfähig und ansprechbar bleiben. Das bedeutet, sich auch auf kontroverse Themen einzulassen und im Dialog zu bleiben, ohne die Haltung oder den Zeitgeist zu übernehmen. Nur so ist es möglich, Trends auch zu hinterfragen und Ungesagtes oder stillschweigend Akzeptiertes anzusprechen. Wie beispielsweise die materielle Seite eines sogenannt selbstbestimmten Alterssuizids. Es ist wichtig, dass die Kirche rund um das Thema von Altwerden und Sterben ein Gegenüber ist. Viele Menschen wissen zu wenig, etwa über Sterbeprozesse oder palliative Möglichkeiten und haben niemanden, mit dem oder der sie ihre Befürchtungen bereden können. Da bietet die Seelsorge wichtige Gesprächspartnerinnen.
Die Handreichung hält fest: «Sterbehilfe ist nur ein ethisches Thema unter vielen anderen, die sich im Spital im Blick auf das Lebensende stellen, und betrifft nach Erfahrungen aus der Praxis nur etwa fünf Prozent der ethischen Anfragen.» Das wird öffentlich allerdings wenig thematisiert.
Die Medienberichte und der öffentliche Debattenraum stehen tatsächlich in keinem Verhältnis zu den tatsächlich vollzogenen assistierten Suiziden. Das Thema des assistierten Suizids ermöglicht es aber, über etwas zu reden, über das zu reden vielen Menschen schwerfällt. Das ist der positive Aspekt. Leider geschieht dieses Reden gerade im öffentlichen Diskurs unter einem sehr engen und von gewissen Aspekten geprägten Blickwinkel. Corona hat dem Reden über das Sterben wieder eine neue, breitere Öffentlichkeit gegeben. Es wäre schön, wenn diese Öffnung (ohne Pandemie!) bleibt.
Interview: Madeleine Stäubli
Präsent, wenn Menschen Seelsorge wünschen
Wir sind mit Pfarrpersonen in Kirchgemeinden wie auch in Spitälern, Psychiatrischen Kliniken, grossen Pflegezentren, Gefängnissen, am Zürcher Flughafen und am Hauptbahnhof für Seelsorge präsent. Die Notfallseelsorge ist für Blaulichtorganisationen rund um die Uhr erreichbar und die Polizeiseelsorge steht Polizistinnen und Polizisten sowie Rettungskräften zur Verfügung.