Älter werden, wie geht das gut?

Der Theologe und Gerontologe Heinz Rüegger plädiert dafür, den Alterungsprozess nicht zu bekämpfen, sondern zu bejahen – und schliesst das Sterben explizit mit ein.

Heinz Rüegger, wie schauen Sie als Altersforscher mit 71 Jahren auf das eigene Altern? 

Ich finde meine jetzige Lebensphase des jungen Alters als die schönste meines Lebens: viel Freiheit, viel Ruhe, viele Engagements; auch neue Zugänge zu den passiven, kontemplativen Seiten des Lebens. Ich spüre auch grosse Dankbarkeit im Lebensrückblick, auf das, was alles gelungen ist und mir geschenkt wurde.

Sie sind mit dieser Einschätzung in guter Gesellschaft. Die Zufriedenheit wächst bei den meisten Menschen nach 50 bis ins hohe Alter – allen Einschränkungen zum Trotz. Warum ist das so?

Das hat damit zu tun, dass einiges an Belastungen und an Erwartungen entfällt. Man muss niemandem mehr etwas beweisen. Man profitiert auch von der Lebenserfahrung und der wachsenden Fähigkeit, mit Gebresten und Einschränkungen einigermassen ge­lassen umzugehen.

Einigen Frischpensionierten fehlt die Erfüllung, die sie aus dem Beruf zogen. Wie kann man dem begegnen? 

Es hilft, wenn man sich bewusst darauf einstellt und die neue Lebensphase neugierig und spielerisch plant. Leitend sind dabei Fragen, woran man Freude hat, was sinnstiftend ist, und wie man eigene Ressourcen nutzen kann.

Gewisse Menschen fühlen sich noch mit 80 fit genug, Präsident der USA zu sein. Typisch für unsere Zeit?

Das gab es schon in früheren Zeiten. Aber es stimmt, dass Menschen heute aufs Ganze gesehen länger fit bleiben. Andererseits haben gerade alte Männer zuweilen ein Problem, Machtpositionen loszulassen. Das ist kein Zeichen von Reife.

Engagierte Seniorinnen und Senioren gibt es auch bei uns. Wo können sie sich einbringen? 

Es gibt viele Möglichkeiten des zivilgesellschaftlichen Engagements: im sozialen, kulturellen, pädagogischen oder familiären Bereich. Auch die Kirche bietet vielfältige Möglichkeiten des Engagements und der Begegnung. Wer sich dort beteiligt, profitiert von der Einbettung in ein soziales Geflecht. Wertvoll ist zum Beispiel die Begleitung von kranken, einsamen oder sterbenden Menschen, wie es die Besuchsdienste anbieten, aber auch die Bildungsangebote, wie zum Beispiel der «Letzte Hilfe-Kurs». Die Kirche ermöglicht auch Initiativen, sie stellt Räume und Ressourcen zur Verfügung und sorgt für Vernetzung mit anderen Institutionen.

Vieles kann man bezüglich der eigenen Gesundheit nicht beeinflussen. Wie findet man heraus, wann es Zeit ist, eigene Grenzen anzunehmen? 

Der Gesundheit Sorge zu tragen ist gut. Ich halte allerdings wenig vom Stress, dauernd und bis ins hohe Alter die Schritte pro Tag zu zählen und sich krampfhaft an ein fixes Leistungsniveau zu klammern. Wer früher einen 4000er erklommen hat, entdeckt vielleicht neu den Üetliberg als lohnendes und realistisches Ziel. Letztlich ist das Annehmen und Akzeptieren der eigenen Grenzen immer wieder ein subjektives Abwägen und hängt davon ab, wie wichtig man die eigene Gesundheit und am Schluss das eigene Weiterleben empfindet.

Wie übt man loslassen? 

Abschiedlich leben (Verena Kast) kann man ein Leben lang einüben, indem man Altes zurücklässt und neugierig in unbekanntes Neuland aufbricht. Glaube und spirituelle Praxis kann ermutigen, sich und sein eigenes Leben vertrauensvoll loszulassen auf ein grösseres Ganzes hin. Auch hier bietet die Kirche viele Anknüpfungspunkte für Ge­spräche über existenzielle Fragen mit Seel­sorgenden und mit Menschen, die einen begleiten und stärken.

Für viele Menschen ist es eine Horror­vor­stellung, auf Pflege angewiesen zu sein. Können Sie etwas von dieser Angst aus­räumen?

Abhängig sein von anderen gilt in unserer westlichen Kultur als etwas Problematisches. Das ist ein Zeichen eines einseitigen Menschenbildes, das vergessen hat, dass das gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein fundamental zum Menschsein gehört. Wir müssen wieder die «Kunst der Abhängigkeit» (Ingrid Riedel) lernen. Im Übrigen: Moderne Pflegeinstitutionen sind sensibilisiert für respektvolle, qualitativ hochstehende Pflege, die man dankbar in Anspruch nehmen kann.

Sie waren letzthin mit einer Pro Senectute-Vortragsreihe unterwegs, die den «lebensfreundlichen Umgang mit der eigenen End­lichkeit» empfahl. Was bedeutet das?

Dass man endlich aufhört, das Sterben zu pathologisieren, als etwas Krankhaftes, mit allen Mitteln zu Bekämpfendes anzusehen, wie das die Medizin und wir Konsumenten der Medizin noch weithin tun. Man könnte wieder lernen, wie das jüngst ein internatio­naler Expertenbericht über den Wert des Todes eindrücklich gefordert hat: Sterben ist für uns Menschen etwas ganz Natürliches, Sinnvolles, ja Gesundes. Natürlich ist damit das Sterben in fortgeschrittenem Alter gemeint.

Das Interesse an den Vorträgen war gross, das Echo gut. Einigen Leuten kam der Titel «Sterben ist gesund» in den falschen Hals, weil sie annehmen, dass Sie Senioren medizinische Behandlungen vorenthalten möchten. Was sagen Sie dazu?

Das ist ein grosses Missverständnis. Im Sinne der Patientenautonomie, die mir ethisch ganz wichtig ist, darf niemandem verwehrt werden, auch im hohen Alter noch lebensverlängernde Massnahmen zu beanspruchen, sofern er oder sie das will. Die Frage ist nur, ob das immer sinnvoll und klug ist. Ob man nicht ein Ver­hältnis zur eigenen Sterblichkeit entwickeln könnte, das einem die innere Freiheit gibt, abzudanken, weil man so gelebt hat, dass man lebenssatt geworden ist, ohne die medizinisch mögliche Überlebenszeit bis zum Letzten einfordern zu müssen.

Wie wirkt eine solche Akzeptanz des Sterbens auf das Leben? 

Es gibt eine philosophisch-theologische Tradition im Abendland, die lehrt, dass es dem Leben dient, wenn man sich mit der eigenen Endlichkeit anfreundet. Im Psalm 90,12 bittet Gott: «Lehre uns bedenken, dass wir sterben müs­sen, damit wir ein weises Herz gewinnen.» Verena Kast ist als Psychologin überzeugt: «Je akzeptierter wir den Tod in das eigene Lebenskonzept einbauen, desto lebendiger vermögen wir das Leben zu leben.» Auch C.G. Jung meinte, als Psychiater fände er es gesünder, in der zweiten Lebenshälfte bewusst auf den Tod als Ziel des Lebens zuzugehen, als ihn zu verdrängen. Das helfe mehr zu einem guten, sinnvollen Leben und Altern.

Woher rührt eigentlich Ihr Forschungsinteresse am Altern? 

Altern und Sterben wurden bei mir im Übergang zur zweiten Lebenshälfte (also Mitte vierzig) zu den zentralen Lebensthemen – als Folge einer medizinischen Midlife-Crisis. Seither lebe ich sehr gut und intensiv mit diesen beiden Themen. Sie helfen mir, das Leben zu vertiefen.

Interview: Christian Schenk

Heinz Rüegger Altersforscher

Dr. theol. Heinz Rüegger forscht und publiziert zu Fragen des Alterns und des Sterbens. Er beschäftigt sich mit Fragen zu Autonomie und Pflegebedürftigkeit im hohen Alter. Er äussert sich mitunter kritisch über die Folgen einer hochtechnisierten Medizin und die Versuche, Alter und Sterben zu verhindern